„Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“
Mark Twain
Die Kurzgeschichte – Merkmale und Entstehung
Die Kurzgeschichte erzählt auf nur wenigen Seiten von großen menschlichen Themen wie Einsamkeit, Liebe, Krieg oder Tod. Meist sind gesellschaftskritische Untertöne herauszulesen. Die Hauptfigur in der Geschichte steht dabei an einem Wendepunkt in ihrem Leben und vor allem vor der Frage: Wie soll es weitergehen, wenn nichts mehr so ist wie es einmal war?
Direkter Einstieg und offenes Ende
Die Kurzgeschichte beginnt plötzlich, nach ein, zwei Sätzen sind wir als Leser schon mitten in der Geschichte. Es scheint beim Lesen, als springe man auf einen fahrenden Zug, sieht ein Stück Landschaft und Menschen, und nach kurzer Zeit springt man wieder ab. Ohne zu wissen, wohin der Zug rollt. Die Hauptfigur wird aus ihrem Alltag, in der die Kurzgeschichte angesiedelt ist, herauskatapultiert. Das Ende der Geschichte ist offen und wir als Leserinnen und Leser haben die Aufgabe, die Geschichte weiter zu denken. Wir werden also selbst zu Erzählern der Geschichte und stehen auf diese Weise mit dem Autor auf gleicher Ebene.
Der sprachliche Stil
Die Sprache, die in den Kurzgeschichten verwendet wird, ist sehr wirklichkeitsnah und präzise, oft lakonisch. Meist wird auf Metaphern verzichtet. In der wörtlichen Rede verwenden die Autoren häufig Umgangssprache.
Die Figuren
Die Figuren in der Kurzgeschichte haben meist keine Namen. Die Figuren stehen als Typen für alle Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Auch kommen nur eine Figur oder höchstens zwei Figuren in der Kurzgeschichte vor.
Die Einheit von Ort und Zeit
Die Kurzgeschichte spielt an einem Ort, der nicht genauer benannt wird. Durch sprachliche Hinweise kann der Leser den Ort identifizieren. Ein Ortswechsel findet nicht statt. Das ganze Drama spielt sich also an nur einem Ort und in einer relativ kurzen Zeitspanne ab. Wenige Minuten bis vielleicht höchstens eine halbe Stunde dauert die Erzählzeit. Daher ist das Erzähltempo des Autors auch sehr schnell. Die Spannung kann dadurch gut gehalten werden, bis zum überraschenden, offenen Ende.
Die Handlung
So wie es nur einen Ort, eine kurze Erzählzeit und ein schnelles Erzähltempo in der Kurzgeschichte gibt, findet auch nur eine einzige Handlung statt, die linear verläuft. Während es im Roman Haupthandlung und Nebenhandlung mit Hauptfiguren und Nebenfiguren gibt, erzählt die Kurzgeschichte nur eine einzige Handlung mit einer oder höchstens zwei Hauptfiguren. Es gibt keine verschachtelten Handlungen, wie es keine verschachtelten Sätze gibt, nicht mehrere Wendepunkte, sondern nur eine Handlung mit einem einzigen Wendepunkt im Leben der Figur.
Das Eisbergmodell
Die besondere Herausforderung für den Autor besteht beim Schreiben einer Kurzgeschichte darin, einen Subtext zu erschaffen. Das bedeutet, in einfachen, präzisen und wirklichkeitsnahen Worten, eine zweite tiefere Ebene in der Geschichte zu etablieren. Eine gute Kurzgeschichte ist hintergründig und bietet uns unterschwellig eine Botschaft an. Der Leser sollte also auch zwischen den Zeilen lesen. Im Subtext können gesellschaftskritische Töne enthalten sein, die sich beispielsweise gegen die Führung von Krieg und die Folgen eines Krieges wenden. Ernest Hemingway hat die ‚Iceberg Theory‘, einen erzähltheoretischen Ansatz, im Hinblick auf die tiefere Botschaft der Kurzgeschichte entwickelt. Nach dieser Theorie liegt die Mehrdeutigkeit größtenteils im Verborgenen und muss von uns Lesern mit unserer Vorstellungskraft erst im Nachhinein erschlossen werden.
Die Entstehung der Short Story in Amerika
Die Kurzgeschichte beschäftigt uns mit dem Lesen nur wenige Minuten. Entstanden für den eiligen Leser in Amerika, ist sie um 1820, als Zeitschriften und Magazine für die breite Bevölkerung herausgegeben wurden. Auf dem Weg zur Arbeit, im Café gelesen, wurden die Short Stories von Schriftstellern wie Washington Irving, Edgar Allan Poe oder Mark Twain verfasst. Im 20. Jahrhundert waren es vor allem Ernest Hemingway, Truman Capote oder William Faulkner, die mit dieser neuen Textgattung berühmt wurden.
Der literarische Neuanfang in Deutschland
In Deutschland wurden die ersten Kurzgeschichten um 1900 geschrieben. Die Kurzgeschichte stand in dieser Zeit in Konkurrenz mit der Novelle. Besonders Autoren, die dem Expressionismus zugeordnet wurden, bedienten sich der neuen literarischen Form, wie Alfred Döblin oder Robert Musil.
Doch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Autoren wie Alfred Andersch einen literarischen Neuanfang forderten, war die Kurzgeschichte die geeignete Form, sich von der Sprache des Dritten Reiches abzusetzen. Die sachlich und lakonisch erzählte Kurzgeschichte erlebte mit Autoren wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder Ilse Aichinger ihren literarischen Durchbruch. Bis in die fünfziger Jahre waren die Kurzgeschichten mit Kritik an der Nachkriegszeit in Deutschland gespickt. Doch bald darauf, schon in den sechziger und siebziger Jahren, verstummten die Kurzgeschichten wieder und gerieten mit ihrer Kritik ins literarische Abseits. Die Autoren widmeten sich anderen Textformen wie dem Roman.
Die Gruppe 47
1967 zerfiel auch die Gruppe 47, deren Treffen von dem Schriftsteller Hans Werner Richter zwanzig Jahre lang organisiert wurden und großen Einfluss im deutschen Literaturbetrieb hatte. Die Gruppe 47 war kein Verein, es gab keine Satzung. Die Gruppe war eher ein literarisches Forum mit dem Ziel eines literarischen Neuanfangs in einer demokratischen Gesellschaft. Die Kurzgeschichte war aus dieser literarischen Aufbruchsstimmung nicht weg zu denken. Bekannte Schriftsteller sowie Nachwuchsautoren wurden von Hans Werner Richter eingeladen, um ihre noch unveröffentlichten Manuskripte zu lesen und in der Gruppe zur Diskussion zu stellen. Man traf sich in Kneipen oder zu Hause bei einem der Mitglieder. Zu den Mitgliedern gehörten, um nur einige zu nennen, Günter Grass, Siegfried Lenz oder Hans Magnus Enzensberger. Auch Heinrich Böll wurde von der Gruppe 47 im Jahr 1951 eingeladen und mit einem eigenen Preis gefördert, den er verliehen bekam. Durch politische Unstimmigkeiten zwischen Jungautoren und alt eingesessenen Schriftstellern stellte Richter seine Einladungen 1967 ein.
Die zeitgenössische Short Story
Im Jahr 2013 erhielt die Kanadierin Alice Munro für Ihr literarisches Gesamtwerk mit rund 150 Kurzgeschichten den Literaturnobelpreis. Sie hat die Short Story für uns Leser in die heutige Zeit übertragen und gründlich modernisiert. Damit hat sie die Kurzgeschichte als literarische Form wieder ins Licht der Öffentlichkeit geholt und erneut salonfähig gemacht.
Die Kurzgeschichte ist eine eigene Textgattung. Sie ist keine Fingerübung des Autors für eine Erzählung oder einen Roman, sondern sie stellt eine ganz eigene Kunstform dar.
Denn: In einer guten Kurzgeschichte ist die ganze Welt enthalten, das ganze menschliche Drama wird erzählt, komprimiert auf nur wenigen Seiten.